19. Juni 2012Europa 10 Jahre poliofrei – für Polio-Patienten kein Grund zum Feiern

Vor zehn Jahren, am 21. Juni 2002, erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Europa für poliofrei. Den Post-Polio-Patienten hat sie damit keinen Gefallen getan.

Vor zehn Jahren, am 21. Juni 2002, erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Europa für poliofrei. Doch das Virus lebt. Es lauert in afrikanischen und asiatischen Ländern. Allein im Jahr 2010 wurden im zentralasiatischen Tadschikistan über 640 Fälle von Kinderlähmung gemeldet, 14 Menschen starben. Auch in Moskau und Sankt Petersburg traten neue Polioerkrankungen auf. Dennoch beließ die WHO es beim Prädikat „poliofrei“, da Tadschikistan eine große Impfkampagne startete.

„Das Virus ist nur wenige Flugstunden entfernt“, sagt Karola Rengis, erste Vorsitzende des Bundesverbandes Polio Selbsthilfe e.V. mit Sitz in Bielefeld. „Wir raten dringend dazu, keine Impflücken entstehen zu lassen. Denn das Polio-Virus ist hochansteckend.“

Karola Rengis weiß, wovon sie spricht. Die Schluckimpfung, die Kindern von 1962 an in Westdeutschland verabreicht wurde, kam für sie zu spät. Die heute 61-jährige ist als kleines Mädchen an der Poliomyelitis erkrankt. Heute leidet sie unter den Spätfolgen, dem sogenannten Post-Polio-Syndrom (PPS).
Mit ihr klagen in Deutschland etwa 100.000 Menschen über Lähmungen, Schmerzen, Erschöpfungszustände, Atem- und Schluckbeschwerden, Schlafstörungen und viele weitere Symptome. Sie alle leiden unter dem Post-Polio-Syndrom, das nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten ICD-10 unter G 14 als Erkrankung anerkannt ist.

Hinzu kommen etwa eine Million Menschen, die sich als Kind mit dem Polio-Virus infizierten, ohne dass die Krankheit ausbrach oder richtig diagnostiziert wurde. Auch sie können unter PPS leiden, ohne zu wissen, woher die Beschwerden kommen.All diesen Menschen hat die WHO keinen Gefallen getan, als sie Europa für poliofrei erklärte. Denn die Kinderlähmung geriet in Vergessenheit. „Die Poliomyelitis sowie das Post-Polio-Syndrom stehen an den medizinischen Fakultäten unserer Universitäten so gut wie nicht mehr auf den Lehrplänen. Wir als Selbsthilfeorganisation übernehmen die Fortbildung der Ärzte. Das ist ein Skandal“, sagt Karola Rengis.

Sie beobachtet in den Selbsthilfegruppen des Vereins, die sich wie ein eng geknüpftes Netz über ganz Deutschland ziehen, dass PPS-Patienten sich von niedergelassenen Ärzten mangelhaft behandelt fühlen. Zu gering sei das Wissen über das Post-Polio-Syndrom, zu groß die Angst vor hohen Behandlungskosten, die das Budget eines Arztes sprengen. Infomaterial der Patienten werde zurückgewiesen. „Wir müssen kämpfen, obwohl eine wohnortnahe medizinische Versorgung für alle gesetzlich Versicherten nach SGB V von den Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen sicherzustellen ist.“

Einen kleinen Erfolg verbucht Karola Rengis dennoch: Polio Selbsthilfe e.V. hat erreicht, dass das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), eine gemeinsame Einrichtung der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Ärztekammern, die Nationalen VersorgungsLeitlinien in Bezug auf das PPS prüft. Auch sollen Patienteninformationen in die Arztbibliothek, so heißt das Wissensportal der deutschen Ärzteschaft, aufgenommen werden. „Das sind langfristig hoffentlich gute Ansätze für unsere medizinische Versorgung. Aber es wird Jahre dauern, bis diese Veränderungen umgesetzt werden.“

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Für weitere Interviews und Filmaufnahmen steht Ihnen Karola Rengis, 1. Vorsitzende des Netzwerks Polio-Selbsthilfe e.V., gern zur Verfügung (Kontakt s.u.).

Über das Netzwerk Polio Selbsthilfe e.V.
Die Polio Selbsthilfe e.V. setzt sich als Interessengemeinschaft von Kinderlähmungserkrankten seit 2001 für ein Netzwerk aus Ärzten und Patienten ein. Ziel ist, über das Post-Polio-Syndrom aufzuklären und somit die Zeit von den ersten Beschwerden bis zur Diagnose zu verkürzen. Der Verein versendet Informationen zum Post-Polio-Syndrom, die in Arztpraxen und Kliniken ausgelegt werden können. Mediziner erhalten auf Anfrage das Buch „Aspekte des Post-Polio-Syndroms“ von Dr. med. Peter Brauer, Mitglied im Ärztlichen Beirat der Polio-Selbsthilfe e.V. www.polio-selbsthilfe.net

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